Hans Caprez

Worte der Verbundenheit anlässlich der Trauerfeier am 22. August 2024

Was ist der Grund, weshalb ich heute zu Euch Trauernden spreche?

Lieber Hans
bei meinem Besuch zwei Tage, bevor du verstorben bist, hast du mich gebeten, heute hier zu sprechen und MEINE Geschichte zu erzählen. Wir kennen uns seit fünfunddreissig Jahren und haben uns kennengelernt, als ich am tiefsten Punkt in meinem Leben angelangt war. Ich hatte damals meine Pro-Juventute-Akten gelesen. Dort wurde ich, kaum auf der Welt, als jenisches Mädchen, als: „Erneuter Ableger der Vagantität» bezeichnet.

Bis zu jenem Zeitpunkt stand ich eigentlich «gut» im Leben, bepackt mit dem gefüllten Rucksack meiner Jugendzeit, mit siebenundzwanzig verschiedenen Pflege- und Heimplätzen bis zu meinem achtzehnten Geburtstag, sechs Jahre davon hinter drei Meter hohen Mauern mit Stacheldraht, und dem jahrelangen sexuellen Missbrauch durch meinen Stiefvater.

Mit deinen Artikeln im Beobachter über die Pro Juventute, warst du der erste, der über unsere leidvolle Geschichte geschrieben hat. Du warst der erste und einzige, der uns zugehört und uns geglaubt hat. Deshalb wandte mich in einem Brief an dich. Umgehend hast du mir geantwortet mit der Einladung zu einem persönlichen Gespräch. So trafen wir uns vor rund 35 Jahren zum ersten Mal, und du wurdest in meinem grössten Kummer zu meinem Mentor. Mit jeder Idee konnte ich zu dir kommen, du hast mich immer mit Rat ermutigt und unterstützt in meinem Kampf um Gerechtigkeit. Viele meiner offiziellen Schreiben hast du gegengelesen, weil ich wollte, dass sie fehlerfrei sind. Du hast inhaltlich nie eingegriffen, nur die Rechtschreibefehler korrigiert. Das war für mich wichtig, obwohl du das eigentlich unnötig fandest: «Sie sollen sich mit dem Inhalt befassen, nicht mit deinen Fehlern», meintest du jeweils.

Ich werde nie vergessen, wie wir uns überlegt haben, uns beide am Bundeshaus anzuketten, und in den Hungerstreik zu treten… Wir haben dann gemeinsam einen anderen Weg eingeschlagen: Du hast mich bestärkt, wie du eine Stimme in der Öffentlichkeit zu werden und für all jene Betroffenen zu reden, die für ihr Schicksal keine Worte mehr finden. Unvergesslich bleibt unser letzter gemeinsamer Auftritt bei der Robert Kennedy Stiftung. Das Unrecht, begangen an uns Kindern der Landstrasse, verjährt nicht, und gehört unauslöschlich in das Bewusstsein der Menschen und zur Schweizer Geschichte.

Danke Hans für Deinen unermüdlichen, unerschütterlichen Einsatz. Du wirst uns sehr fehlen und hinterlässt bei mir eine grosse Lücke 💔